Eine packende Einspielung und man lernt auch noch was dabei. Zander zählt nach meinem Dafürhalten zu den "objektiveren" Mahler-Interpreten. Wir erleben eine partiturgetreue Wiedergabe, die ihre Eloquenz nicht (wie etwa bei Bernstein) aus einer sentimentalen Selbstreflexion bezieht, sondern den Willen des Komponisten sehr genau befolgt. Klingt das langweilig? In keinem einzigen Takt! Benjamin Zander stürzt sich mit größtem Engagement in die Aufgabe. Mahler liegt ihm hörbar am Herzen. Er übernimmt Gestaltungsprizipien, die auch seinen anderen Einspielungen zugrunde liegen (etwa das elastische rubato in den langsamen Sätzen) und zieht die Spannung und Sprengkraft aus der sorgfältigen und vorbehaltlosen Umsetzung Mahlers zahlreicher Anweisungen.
Wie immer bei Zander gibts eine gesprochene Einführung (englisch) auf der letzten CD. Wir erfahren, warum sich der Dirigent für die Reihenfolge der Erstausgabe entschieden hat und das Scherzo als zweiten (nicht dritten) Satz spielt. Er fasst (wie Mahler bei der ursprünglichen Komposition) das Scherzo als direkte und düstere Fortsetzung des Eingangssatzes auf (gleiche Tonart, ähnliches thematisches Material), welches die erreichte Auflösung in A-dur untergräbt und in das grimmige a-moll des Anfangs zurückzwingt. Zander spricht von einer "Falle, aus der es kein Entrinnen gibt". Außermusikalische Gründe haben Mahler später zur Umstellung der Sätze motiviert, was auch an der harmonischen Konstruktion sichtbare Bruchstellen hinterlassen hat. Die ersten zehn Takte des Schlussatzes dienen als Modulation vom Andante (Es-dur) zurück zur "Tonika" der Symphonie (a-moll). Überflüssig, wenn das a-moll Scherzo direkt vor den Schlussatz gerückt wird. Die ursprüngliche Fassung entwickelt sich musikalisch stringenter.
Zwei oder drei Hammerschläge im Finale? Benjamin Zander folgt auch hier der ursprünglichen Kompositionsidee Mahlers. Aus fundierter Kenntnis dessen Biografie erklärt er die Erwägungen, die Mahler zur Änderung veranlassten: seine abergläubische Furcht, eine selbsterfüllende Prophezeiung zu komponieren, die in drei Schicksalsschlägen sein eigenes Ende heraufbeschwört, gleich dem des tragischen Helden in der Komposition. Er radierte den dritten, tödlichen Hammerschlag aus. Der nervöse und angespannte Mahler habe die Schlusstakte der Symphonie abgemildert, die emotionale Wirkung verwässert, um überhaupt eine Aufführung leiten zu können. Demnach existieren zwei Fassungen der tragischen Symphonie: der vorbehaltlose, radikale Entwurf des Komponisten Mahler, dessen emotionaler Kraft der Dirigent Mahler jedoch nicht gewachsen war. Allein aus diesem Grund gibt es die revidierte, gemilderte (heute gebräuchlichere) Fassung, welche der Dirigent Mahler aufführen konnte.
An solche Überlegungen, argumentiert Benjamin Zander, sind heutige Wiedergaben der Symphonie nicht gebunden. Mit diesen Einsichten ausgestattet bevorzuge ich nun ebenfalls die ursprüngliche Version mit drei Schlägen. Der Zuhörer kann selbst entscheiden, welchen Schlussatz er hören möchte, Zander und das Philhamonia Orchestra haben ihn in beiden Versionen eingespielt. In überragender audiophiler Tonqualität. Fünf Sterne.