Ich vergesse es deutlich häufiger als im Falle Bachs, aber auch Händel führte seine Oratorien in der Regel mit einem Chor aus Knaben- und Männerstimmen auf. So geht aus einer Rechnungsliste für eine Londoner Aufführung des „Messiah“ im Jahre 1754 hervor, auf was für einen Chor Händel in etwa zurückgreifen konnte: 6 Knaben- und 13 Männerstimmen groß war das Ensemble; in Dublin waren es bei der Erstaufführung des „Messiah“ wohl immerhin 16 Knaben- und 16 Männerstimmen. Erst die britischen Chorals Societies vergrößerten die Besetzung des Chores regelmäßig um ein Vielfaches, was sich dann – ich sage nur Beecham – als Tradition etablierte.
Es ist anzunehmen, dass zum Zeitpunkt der Erstaufführung des „Solomon“ die Besetzung ähnlich groß (bzw. klein) war, wie es die Rechnungsliste zum 1754er „Messiah“ nahe legt.
Insofern ist Nicholas McGegans Aufnahme des „Solomon“ diejenige, die die Ergebnisse der Forschung wohl am konsequentesten umsetzt, denn hier singt kein Massenensemble und auch kein professioneller Chor von ausgebildeten erwachsenen Choristen beiderlei Geschlechts, sondern einer der renommiertesten Knabenchöre, die das Vereinigte Königreich zu bieten hat: der Winchester Cathedral Choir. Wer nun eine andere Art Chor zu hören gewöhnt ist, der wird mit dieser Aufnahme wohl nicht unbedingt glücklich werden, obwohl das Ensemble über weite Strecken sehr schön singt. So gelingen der zarte „Nachtigallenchor“, obwohl für meinen Geschmack zu flott musiziert, aber auch das festlich-pompöse „From the censer“ mE wirklich gut. Auf der anderen Seite muss ich aber auch feststellen, dass der Chor auf die Dauer nicht der Ausdrucksvielfalt der stilistisch vollkommen unterschiedlichen Chorsätze gerecht wird. Da fehlt mir zu sehr die dramatisch-szenische Durchdringung, was mE dazu führt, dass sich eine gewisse Eintönigkeit im Ausdruck einschleicht (man höre bspw. „Draw the tear from hopeless love“), was – so meine ich ganz frech – kaum Händels Intentionen entsprechen dürfte. Hinzu tritt der Umstand, dass der Chor zwar schön klingt, aber gerade in den Knabenstimmen bei Weitem nicht so auf eine Schlagkraft und Klangmächtigkeit zurückgreifen kann, wie beispielsweise der Monteverdi Choir. Da fehlt bisweilen einfach (noch) das „Metall in der Stimme“, was sich gut bei den jeweiligen Einsätzen der Oberstimmen und im Wechselgesang der beiden Chöre in „Praise the Lord“ hören lässt.
Die Solisten gefallen mir insgesamt recht gut. Tim Mead zeichnet ein nicht ganz so glattes Bild von Solomon wie Andreas Scholl. Er klingt – besonders zu Beginn des Livemitschnittes – ausgesprochen gut, glasklar, aber mit einem etwas brustigen Hintergrund. Bei Kraftaufwand (Randbereiche der Tessitur) stellt sich ein deutliches, aber mich nicht störendes Vibrato ein. Sehr eindruckvoll finde ich sein erstes Rezitativ („Almighty power“), das er mit echtem Sinn für die Szene gestaltet.
Dominique Labelle übernimmt die Partien der Gattin Solomons sowie die First Harlot. Ihre nicht ganz leichte, durchaus voluminöse Stimme spricht mich nicht so recht an. Mir klingt das durchgehend etwas zu drall. Auch ihr schnell flackerndes Vibrato ist meine Sache nicht. Das soll jedoch nicht davon ablenken, dass sie beide Rollen intelligent und in sich stimmig zeichnet. Auch mich persönlich wirkt sie als First Harlot jedoch nicht zerknirscht genug.
Claron McFadden übernimmt die Rollen der Second Harlot und der Queen of Sheba. Als keifende Harlot gefällt sie mir sowohl im Terzett als auch in ihrer Arie „Thy sentence, great king“, in der sie gekonnt ihr Gift verspritzt. Als Queen of Sheba hätte ich mir von ihr eine etwas süffigere Interpretation gewünscht. Michael Flatterys Zadok ist mE nicht unproblematisch. Die erste Arie „Sacread raptures“ ist ausgesprochen schwer zu gestalten und technisch einigermaßen anspruchsvoll. Leider hat Flattery deutliche Schwierigkeiten, die Koloraturen sauber geführt zu singen, einiges ist da sowohl Intonation als auch Rhythmik betreffend sehr am Rande dessen, was Händel notiert hat. Dafür gestaltet er die herrliche Arie „Golden columns fair and bright“ im dritten Akt ausgesprochen klangschön. Roderick Williams (Levite) ist einer jener englischen Bässe die ich wirklich gerne höre: dunkle Färbung, dabei jedoch nicht polternd sondern samtweich und ausgesprochen elegant. Hier ist es nicht anders.
Das FestspielOrchester Göttingen spielt ausgesprochen ausdrucksstark, mit vorbildlicher Phrasierung und Artikulation, aufs verlässlichste mit den Solisten und dem Chor interagierend. Viel besser kann man das – glaube ich – nicht machen.
Obwohl die Aufnahme – neben vielen höchst erfreulichen Momenten - durchaus Schwächen mitbringt (s.o.), so ziehe ich sie als komplette Einspielung des „Solomon“ derjenigen McCreeshs vor. Grund dafür ist, dass nach meinem Empfinden McGegan den Charakter dieses Werkes wesentlich sensibler trifft als McCreesh. Während dessen Aufnahme in meinen Ohren eine gewisse Kühle und Aggressivität auszeichnet, so zeichnet sich McGegans Einspielung - neben dem Umstand, dass er ein untrügliches Händchen für ideale Tempi an den Tag legt, sodass das Ganze Werk vollkommen organisch dahinfließt - durch eine freundliche Wärme, eine aus allen Löchern scheinende (Musizier)Freude aus, die ich ganz persönlich dem „musikalischen Fest“, das Händel dem Zuhörer hier bereitet, angemessener finde.